Frau Fulvia Rota ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie hat im vergangenen November das Amt als Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) angetreten. Im Interview berichtete sie mir, welche Spuren das vergangene Pandemie-Jahr in ihrer Berufswelt und der ihrer Fachkollegen hinterlassen hat.
Janine: Die Pandemie stellte das Gesundheitswesen vor immense Herausforderungen. Wie zeigten sich diese für Psychologen und Psychiater?
Fulvia Rota: Zu Beginn des ersten Lockdowns im Frühling waren fernmündliche Therapien per Telefon oder Videotelefonie nicht oder nur massiv limitiert möglich. Das stellte eine grosse Herausforderung für die Weiterführung der Therapien dar, welche gerade in solchen unsicheren Zeiten elementar gewesen wären. Erst drei bis vier Wochen nach Beginn des Lockdowns wurde die Durchführung dann im indizierten Mass ermöglicht. Eine weitere Herausforderung stellte die zunehmende Anfrage nach Therapieplätzen bei niedergelassenen Erwachsenenpsychiatern dar. Während diese sich in der ersten Welle der Pandemie kaum veränderte, nahm die Nachfrage nach psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen in der zweiten Welle ab Oktober massiv zu. Erschwerend hinzu kam, dass der Bundesrat mit den Lockerungen der Einschränkungen Mitte Juni, uns Ärzten die Möglichkeit der fernmündlichen Therapien wieder entzogen hatte. Dies geschah, obwohl die Pandemie überhaupt nicht überwunden war, ganz im Gegenteil, wie wir alle nun seit Wochen – nein Monaten – schmerzlich feststellen müssen. Um dieses so wichtige Instrument wieder ermöglicht zu bekommen, mussten wir über vier Monate lang kämpfen. Diese völlig unverständliche Erschwernis unserer Arbeit, hat uns zugegeben etwas verbittert. Nicht nur das, es hat uns auch daran zweifeln lassen, dass der psychischen Gesundheit der Bevölkerung, von den massgebenden Instanzen, die notwendige Beachtung und Bedeutung geschenkt wird.
Die psychische Belastung der Bevölkerung scheint weiter massiv zuzunehmen. Das ist mehr als verständlich angesichts der ungewissen Lagen. Welche Herausforderungen dieser Zeit sehen Sie als besonders belastend für die Menschen?
Da sehe ich tatsächlich Einige. Einerseits sind da die andauernd hohen Infektions- und Todeszahlen genauso wie die omnipräsente mediale Berichterstattung darüber. Andererseits die Verunsicherung durch die (bis vor wenigen Tagen) kantonal unterschiedlichen und uneinheitlichen Massnahmen sowie die oftmals unklare Kommunikation und das zögerliche, zaudernde Verhalten des Bundesrates. Das alles verunsichert viele Menschen, löst bei ihnen neue Ängste und Sorgen aus oder verstärkt die bereits vorhandenen. Die Angst vor dem Virus selbst kann dabei genauso belastend sein, wie diejenige vor Jobverlust, Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Verarmung oder dem sozialen Abstieg. Menschen reagieren auf psychische Herausforderungen unterschiedlich, daher leiden auch nicht alle im gleichen Masse. Zudem ist nicht jeder gleich schwer von der Pandemie betroffen. Es betrifft zwar weite Teile der Bevölkerung, besonders schwierig ist es jedoch für sozial schlechter gestellte und benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Sprich für diejenigen, die bereits vorher in ökonomisch prekären Verhältnissen lebten und für die eine Lohnreduktion oder gar ein Stellenverlust verheerend Auswirkungen haben kann. Im schlimmsten Fall sogar ihre ganze Existenz gefährdet. Erschwerend hinzu kommt, dass Arbeitslosigkeit mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergeht, was sogar wissenschaftlich bewiesen ist. Insgesamt muss betont werden, wie wichtig es ist, dass die Bevölkerung Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung erhält. Mit unserer Arbeit können wir einen wichtigen Beitrag zur psychischen Gesundheit leisten.
Haben sich Ihre Therapiesitzungen und Behandlungen im vergangenen Jahr verändert? Bemerkten Sie eine Änderung der Themenschwerpunkte?
Die Veränderungen lagen vor allem im praktischen Bereich, primär betraf das die Umsetzung des Schutzkonzeptes. Von der Umstrukturierung des Wartebereichs und der mehrfachen aufwändigen Reinigung und Desinfektion bis hin zur Umstellung des Praxiszeitplans, um Begegnungspunkte zwischen PatientInnen bestmöglich zu vermeiden. Das Arbeiten mit Maske ist zudem eine Veränderung, die eine starke Beeinträchtigung unserer Arbeit darstellt. Die Bedeutung der Mimik in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung ist ein wichtiger und nicht zu vernachlässigender Faktor. Was die Themenschwerpunkte der Therapien betrifft, so sind diese von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Bei einigen dominiert das Thema Corona komplett und rückt sämtliche anderen Probleme scheinbar in den Hintergrund. So werden frühere Themen vermeintlich zweitrangig und müssen, obwohl sie unterschwellig natürlich weiterhin bestehen, den Sorgen und (Überlebens-)Ängsten der Pandemie weichen. Bei anderen Patienten hingegen wird die therapeutische Arbeit kaum beeinträchtigt. Mittlerweile kommen aus verschiedenen Gründen wieder vermehrt fernmündliche Therapien zum Einsatz. Teilweise weil die Patienten an Covid-19 erkrankt oder in Quarantäne sind, teilweise aus psychischen Gründen. Manche Patienten trauen sich gar nicht mehr, ihr Haus zu verlassen. Über alles gesehen, lässt sich sagen, dass unsere Arbeit durch die Pandemie eindeutig schwieriger geworden ist.
Das Telefon 143 von der Organisation «die dargebotene Hand» bietet Hilfesuchenden Seelsorge via Telefon, Chat oder Mail. Wie wichtig sind solche Angebote Ihrer Meinung nach in der aktuellen Situation?
Diese Angebote sind überaus wertvoll und so elementar, dass man sie – würden sie nicht bereits bestehen – erfinden und umgehend einführen müsste. Die in der Organisation eingesetzten Freiwilligen und Koordinatoren leisten einen sehr grossen und wichtigen Beitrag in der Gesundheitsversorgung. Auch ihnen gebührt grosser Dank – genau wie dem ganzen Gesundheitspersonal. Insbesondere demjenigen in der Pflege, das seit Monaten Ausserordentliches leistet.Wir wollten unseren Kunden dieses Jahr etwas mit auf die Reise ins 2021 geben, das positive Spuren hinterlässt. Spuren von Hoffnung und der Zuversicht, dass wir die Herausforderungen des verganenen Jahres zum Besseren wenden können. Deshalb wurden im Namen der HIN Community Spenden an drei Organisationen getätigt. Eine der Drei geht an die Schweizer Organisation die Dargebotene Hand. Sie unterstützen Spitäler, Gemeinschaftspraxen und Covid-19-Testcenter, um diese etwas zu entlasten.
Fulvia Rota
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und wurde im vergangenen November zur Präsidentin-elect der SGPP gewählt. Sie gehört zum festen Bestandteil der HIN Community.