«Pro Mente Sana sensibilisiert für das Thema psychische Gesundheit und trägt damit dazu bei, es zu enttabuisieren»

«Pro Mente Sana sensibilisiert für das Thema psychische Gesundheit und trägt damit dazu bei, es zu enttabuisieren»

Philipp Senn
Philipp Senn

Die HIN Mitarbeitenden haben entschieden: Die diesjährige Neujahrsspende von HIN geht an die Stiftung Pro Mente Sana, die sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz einsetzt. Im Interview spricht Geschäftsleiter Roger Staub über die Ziele und Angebote der Stiftung und über die Auswirkungen der Coronapandemie auf die psychische Gesundheit in der Schweiz.

 Janine: Herr Staub, wofür setzt sich Pro Mente Sana ein?

Roger Staub: «Pro Mente Sana, Psychische Gesundheit stärken» – so lautet unser Slogan und dafür setzen wir uns ein. Wir wollen psychische Gesundheit fördern, bei gesunden Menschen ebenso wie bei psychisch Kranken. Um dies zu erreichen, bieten wir Angebote in vier Bereichen: Damit die Leute möglichst wenig krank werden, machen wir Präventionsarbeit; im Rahmen der Gesundheitsförderung vermitteln wir, wie man die eigene psychische Gesundheit stärken kann; brauchen psychisch Kranke oder deren Angehörige Hilfe, stehen wir ihnen zur Seite. Und last but not least sind wir überzeugt, dass Genesung (oder Rehabilitation) möglich ist. Bei uns heisst das Recovery.

Ihre Stiftung ist Trägerin der Kampagne «Wie geht’s dir?», die in den letzten Monaten gut sichtbar war. Welches Ziel verfolgen Sie damit?

Mit dieser Kampagne machen wir Gesundheitsförderung. Sie soll Leute dazu ermutigen, über ihre psychische Gesundheit zu sprechen. Wir möchten sensibilisieren für das Thema und tragen dazu bei, es zu enttabuisieren. Denn in unserer Gesellschaft wird noch immer zu selten über psychische Gesundheit geredet und die wenigsten Leute antworten ehrlich auf die Frage «Wie geht’s dir?».

Warum ist es denn wichtig, über das eigene Befinden zu sprechen?

Die Frage «Wie geht’s dir?» kann der Anfang von einem Gespräch sein, das beiden Gesprächspartnern guttut. Fragen wir Personen, die psychisch krank geworden sind, was sie in der Anfangsphase ihrer Probleme gebraucht hätten, sagen viele etwas wie «Ich hätte mir gewünscht, mit Angehörigen, Freunden und/oder Arbeitskolleginnen darüber reden zu können.» Doch über psychische Krankheiten wird heute oft nur in einer abwertenden Weise gesprochen. Es gibt unzählige Schimpfworte oder negative Bezeichnungen für psychisch Kranke. Deshalb schweigen viele Leute, wenn es ihnen nicht gut geht. Sie möchten nicht zu dieser Gruppe gehören, von der so abschätzig gesprochen wird.

Und was passiert, wenn man nicht über psychische Probleme spricht?

In der Regel verschlimmern sich die Probleme, wenn man sie totschweigt. Viele Diagnosen werden heute viel zu spät gestellt. Aus leichten Depressionen beispielsweise werden schwere Depressionen. Und die Heilungschancen bei schweren Depressionen sind viel schlechter als bei früher Therapie. Die Krankheit belastet den Alltag und den Job, oft werden die Betroffenen krank, bleiben lange von der Arbeit weg und die Wiedereingliederung klappt nachher nicht. Würde man ihnen früher helfen, könnte man eine leichte Depression wahrscheinlich ambulant behandeln, sodass die Betroffenen gar normal weiterarbeiten könnten.

Jetzt haben wir über Gesundheitsförderung gesprochen, vorher haben Sie auch den Begriff Prävention erwähnt. Worin besteht der Unterschied?

Gesundheitsförderung soll die Gesundheit stärken – und das können Gesunde genauso wie Kranke. Prävention hingegen ist die Lehre, wie man nicht krank wird. Es geht darum, Risikofaktoren auszuschalten, die zu Krankheiten führen können. Sagt man Leuten beispielsweise, sie sollen Masken tragen gegen das Coronavirus, ist das Prävention. Sagt man ihnen hingegen, sie sollen im Freien spazieren gehen, um ihr Immunsystem zu stärken, ist das Gesundheitsförderung.

Plakate der Kampagne "Wie geht’s dir?"

« Viele Personen mit psychischen Problemen sagen, es hätte ihnen geholfen, hätten sie in der Anfangsphase ihrer Probleme mit Nahestehenden darüber reden können. »

Was tut Pro Mente Sana im Bereich Prävention?

Fast alle Schweizerinnen und Schweizer (9 von 10) kennen in ihrem persönlichen Umfeld Personen, denen es psychisch nicht gut geht oder nicht gut gegangen ist. Sie würden gerne helfen, wissen aber nicht wie. Aus diesem Grund bieten wir einen Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit, genannt ensa, an. Darin zeigen wir den Teilnehmenden, wie sie sich verhalten können, wenn sie merken, dass es jemandem in ihrem Umfeld nicht gut geht. Wir haben mit dem ensa Kurs vor 2 Jahren angefangen und seither bereits über 5’000 Ersthelfende ausgebildet.

Pro Mente Sana bietet eine Telefon- und eBeratung für Menschen mit psychischen Problemen, deren Angehörige und Fachpersonen. Wird das Angebot häufig genutzt?

Ja, unsere Telefonleitungen sind in der Regel besetzt. Die Zahl der Beratungen nimmt jedes Jahr zu, während der akuten Corona-Zeit spürten wir zusätzlich einen starken Anstieg. 2020 haben wir über 3000 Gespräche geführt. Eine Beratung bedeutet, dass wir uns mindestens eine halbe Stunde Zeit nehmen für die Anruferin oder den Anrufer. Wir hören zu und versuchen herauszufinden, was eine Person braucht. Dabei arbeiten wir mit der lösungsorientierten Kurzzeitberatung: Wir evaluieren den nächsten Schritt, den eine Person machen möchte, und finden heraus, wie wir sie bei diesem unterstützen können. Es kann auch sein, dass wir jeman-dem mögliche Therapieformen aufzeigen und dabei helfen, einen geeigneten Therapeuten zu finden. 

« Eine telefonische Beratung bedeutet, dass wir uns mindestens eine halbe Stunde Zeit nehmen für die Anruferin oder den Anrufer. »

Sie sagten, die Anzahl Anrufe bei Ihrer Telefonberatung habe am Anfang der Coronapandemie stark zugenommen. Wie hat sich dies bis heute entwickelt?

Genau, als der Lockdown 2020 begann, wurden wir von Anfragen überrannt. Vor allem ängstliche Leute oder solche mit einer Angststörung wurden durch die Situation massiv getriggert. In dieser Zeit haben wir unsere Beratungszeiten auf sieben Tage pro Woche ausgeweitet. Heute, bald zwei Jahre später, ist Corona auf den ersten Blick kein Thema mehr. Dennoch merken wir in den Gesprächen immer wieder, dass bei vielen Leuten, die schon vor der Coronazeit eine Belastung hatten, diese durch diese herausfordernde Zeit schlimmer wurde.

Wie geht es der Bevölkerung denn aktuell?

Etwa 80 Prozent der Leute sagen, es gehe ihnen aktuell gleich gut wie vor der Corona-Pandemie. Schaut man jedoch genauer hin, merkt man, dass es zwar den älteren Personen gut geht, nicht jedoch den Jungen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass bei Jungen zwischen 15 und 25 Jahren die Zahl der Depressionen heute viermal höher ist als noch vor der Pandemie. Und ich finde: Da muss man doch viel mehr machen! Denn bei einer Depression gehören Suizidgedanken und -versuche einfach zum Krankheitsbild. Und man kann doch nicht warten, bis sich diese Situationen durch gestiegene Suizidraten in der Statistik niederschlägt. Deshalb bin ich der Meinung, die Politik müsste das Thema psychische Gesundheit ebenfalls ernster nehmen und mehr in das Humankapital unserer Gesellschaft – unsere Jugend – investieren.

Eine letzte Frage: Was kann man tun, um sich selbst, der eigenen psychischen Gesundheit, Sorge zu tragen?

Eine gute Basis bieten die 10 Schritte für die psychische Gesundheit, beispielsweise in Kontakt bleiben mit Menschen, sich bewusst entspannen und in Bewegung bleiben. Zudem ist es wichtig, über das eigenen Befinden zu reden. In der «Wie geht’s dir?»-Kampagne bieten wir Gesprächstipps hierfür. Merkt man, dass es jemandem im eigenen Umfeld nicht gut geht, kann unser ensa Erste-Hilfe-Kurs helfen. Dieser trägt auch dazu bei, dass es einem selber besser geht. Denn wer weiss, wie man Anderen hilft, versteht sich selbst auch besser.

Über die Stiftung Pro Mente Sana

Pro Mente Sana ist eine unabhängige Organisation für psychische Gesundheit in der Schweiz. Sie ist Anlaufstelle für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, deren Angehörige und Fachleute. «Unser Auftrag ist erfüllt, wenn alle psychisch beeinträchtigten Menschen und ihre Angehörigen Respekt und Unterstützung erhalten, Vertrauen in sich selbst gewinnen und ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben gestalten können.» – so die Vision von Pro Mente Sana.

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Logo Pro Mente Sana

 
Roger Staub

Roger Staub

Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana.

Philipp Senn
Autor: Philipp Senn - Leiter Kommunikation

Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

Expertise
Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Kommunikationsspezialist habe ich in der IT, im Verbandswesen und in der öffentlichen Verwaltung Erfahrung gesammelt. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

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(Fremd-)Sprachen und Technik stehen bei mir auch privat hoch im Kurs, sei es bei Reisen in ferne und weniger ferne Gefilde oder kleinen Bastelprojekten in Haus und Garten. Meine Freizeit verbringe ich am liebsten mit meiner Familie. Ich lache gern und bin für ein spannendes Gespräch unter Freunden, Kollegen oder Bekannten immer zu haben.

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