«Niemand wird Arzt, um dreimal den gleichen Namen ins System einzugeben» – Nationalrätin Sarah Wyss im Interview

Sarah Wyss setzt sich als Nationalrätin SP für ein effizienteres, sicheres und qualitatives Gesundheitswesen ein. Für sie der massgebende Faktor dabei: Die Digitalisierung. Im Februar 2024 hat sie im Parlament ein Postulat für künftige Mindeststandards für Primärsystemanbieter eingereicht. Im Interview erzählt Sarah Wyss, wieso das wichtig ist und inwiefern der Vorstoss mit dem EPD und dem staatlichen Programm DigiSanté zusammenhängt.

HIN: Frau Wyss, aktuell prüft der Bundesrat das Postulat, dass Mindeststandards für Primärsystemanbieter eingeführt werden sollen. Wieso braucht es staatliche Vorgaben, wenn es einen freien Markt gibt, der das regulieren könnte?

Sarah Wyss: Den freien Markt gibt es im Gesundheitswesen de facto nicht, weil die Preise durch den Tarif bestimmt sind. Und es auch nicht sinnvoll ist. Denn mehr ist nicht unbedingt besser im Gesundheitswesen. Die Kosten für Primärsysteme sind auch Teil des Tarifs. Zudem beträgt die Laufzeit eines Primärsystems je nach Komplexität zehn bis fünfzehn Jahre. Hat man sich für ein System entschieden, ist man relativ abhängig davon. Mit dem Postulat wird kein staatliches System gefordert, sondern festgelegte Mindeststandards für die Systemanbieter.Es gibt zwei Hauptgründe, wieso es die Standards jetzt braucht: Einerseits kommt es im Gesundheitswesen immer wieder zu Fehlern und Qualitätseinbussen. Und man weiss von Studien her, dass eine Ursache dafür in der medizinischen Dokumentation liegt. Mit den Mindeststandards sollen Qualitätssicherung, aber auch die Interoperabilität zwischen den Systemen sichergestellt werden, unabhängig davon, wer welches System nutzt. Andererseits haben wir jetzt auch das Programm DigiSanté, das mit den Mindeststandards zu Effizienzsteigerungen führen und die Patientensicherheit verbessern kann.

Sie erwähnen DigiSanté als Treiber für den Vorstoss. Der Zeitpunkt des Postulats ist also ganz bewusst gewählt?

Ja, DigiSanté ist ein Teil davon. Was nämlich in DigiSanté bisher komplett fehlt, sind Systemanbieter. Ein staatliches Primärsystem macht aus meiner Sicht aber wenig Sinn. Je nach Tätigkeitsbereich und Betriebsgrösse sind unterschiedliche Systeme sinnvoll und es sind viele gute Systeme schon da. Aber ich möchte, dass wir im Zusammenhang mit DigiSanté die Mindeststandards festlegen. Es soll verschiedene Anbieter von Systemen geben. Aber nicht so, dass es nachher wegen der fehlenden Qualität und Interoperabilität zu Folgekosten führt, die dann die Allgemeinheit tragen muss. Und am Ende leidet der Patient darunter.
Sarah Wyss
Foto: Pino Covino

Sarah Wyss

Sarah Wyss (36) ist Nationalrätin SP, Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit und war vier Jahre lang Präsidentin der Gesundheits- und Sozialkommission des Grossen Rates des Kantons Basel-Stadt. Darüber hinaus ist sie Co-Leiterin Management der Direktion für Medizin und Pflege der universitären psychiatrischen Dienste Bern, Stiftungsratsmitglied der Spitex Basel und Präsidentin der nationalrätlichen Finanzkommission. Sarah Wyss setzt sich im Gesundheitswesen für bezahlbare Prämien, eine gute Versorgung und eine Dämpfung des Kostenwachstums ein.

Angenommen, die Mindeststandards werden vom Bund festgelegt. Vermutlich müssten sich einige Praxen und Spitäler dann in naher Zukunft ein neues System anschaffen. Würde dies der Staat bezahlen oder die Leistungserbringer selber?

Die Systemkosten sind Teil der Infrastruktur und deshalb im Tarif enthalten. Das ist wie, wenn ich als Gärtner eine Schaufel kaufe. Dann sage ich auch nicht den Kunden, ihr müsst mir die Schaufel noch bezahlen, sondern das ist Teil der Abgeltung. An dieser Stelle könnte man über die Höhe des Tarifs streiten. Aber grundsätzlich gibt es durch Mindeststandards von Primärsystemen keine mittelfristigen Zusatzbelastungen. System-Updates gehören zum normalen Zyklus.Ich könnte mir aber vorstellen, dass man vielleicht tatsächlich ein Impulsprogramm macht, wo man sagt: Wenn man das neue System vor Ablauf des bisherigen einführt, erhält man ein «Goodie», um zu verhindern, dass eine zu lange Übergangsfrist eingeführt werden muss. Klar ist, wenn es zusätzliches Geld braucht, dann sind die Kantone in der Pflicht.

Teilen Sie die Einschätzung des BAG und BFS (Bericht vom 19.01.2024), dass die Verfassungsgrundlage nicht genügt, um nationale Standards zu erlassen, oder sollte dies ihrer Ansicht nach möglich sein, beispielsweise unter Einhaltung der Qualitätsvorgabe gemäss Verfassungsartikel BV 117a, medizinische Grundversorgung?

Es macht schlicht keinen Sinn, dass die Kantone das machen. Ich gehe davon aus, dass die Verfassungsgrundlagen ausreichen, aber dass es sicherlich gesetzliche Anpassung braucht. Bezüglich des Verfassungsartikels kann man aus meiner Sicht für beide Seiten argumentieren. Es ist auch eine Frage des politischen Willens. Es gibt genügend Studien, die aufzeigen, dass Primärsysteme qualitätsrelevant sind.

Gibt es noch weitere Argumente, die für die Umsetzung der Standards sprechen?

Den Fachkräftemangel. Den darf man nicht unterschätzen. Viele medizinische Arbeiten und Dokumentationen werden doppelt gemacht. Diesen Ressourcenverschleiss können wir uns angesichts der fehlenden Fachkräfte schlicht nicht mehr leisten. Wir sind darauf angewiesen, dass die Arbeit effizienter wird. Das ist ja auch im Sinne der Leistungserbringer. Ich glaube, niemand wurde Arzt oder Ärztin, um dreimal den gleichen Namen ins System einzugeben.

«Mit den Mindeststandards sollen Qualitätssicherung, aber auch die Interoperabilität zwischen den Systemen sichergestellt werden, unabhängig davon, wer welches System nutzt.»Sarah Wyss, Nationalrätin SP, Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit

Der Fachkräftemangel trägt wohl auch dazu bei, dass es immer mehr «Care at Home» gibt. Dabei fliessen die Gesundheits- und Patientendaten aus den Praxen und Spitälern hinaus in die Privathäuser und retour. Wie kann man diesen Datenfluss an sensiblen Daten sicher gestalten?

Das müssen IT-Spezialisten fachlich beantworten. Von Gesetzes wegen ist es so, dass die Daten den Patienten und Patientinnen gehören und nicht dem Spital, und das ist auch richtig so. Die Systeme müssen die höchste Sicherheitsstufe haben, denn Gesundheitsdaten sind extrem sensibel. Die Thematik der Datensicherheit muss ebenfalls im Zusammenhang mit dem elektronischen Patientendossier EPD angeschaut werden. Hier kann ein Blick ins Ausland hilfreich sein, die Schweiz muss das Rad nicht neu erfinden.  

Stichwort EPD: Braucht es dann überhaupt noch ein EPD, wenn die Systeme interoperabel sind?

Ja, das braucht es, denn die gesetzliche Grundlage lautet: Die Patientendaten gehören den Patienten selbst. Es braucht einen zentralen digitalen Ort, wo sowohl Patienten als auch Gesundheitsfachpersonen Zugriff haben, und als diesen sehe ich das EPD. Aber das heutige EPD muss – und wird es ja auch – dringend revidiert werden.

Sie sprechen die Totalrevision des EPD respektive des EPDG an. 2015 wurde das EPD auf Bundesebene gesetzlich verabschiedet. Jetzt haben wir das Jahr 2024 und eine Minderheit verfügt über ein EPD. Ist es auch eine Überlegung, das EPD abzuschaffen und den Weg frei für etwas Neues zu machen?

Für mich ist klar: Die laufende Totalrevision des EPDG ist ein muss. Das heutige Gesetz ist schlecht. Die Hauptproblematik ist die doppelte Freiwilligkeit, weil dies nicht funktioniert, auch braucht es einen echten Mehrwert damit es zum Nutzen für Leistungserbringer wie auch für Patientinnen führt. Ich sage aber nicht, dass diese Totalrevision auch eine Art Neuanfang sein kann. Ich bin offen für Diskussionen, um etwa von den Stammgemeinschaften wegzukommen. Ob es Neuanfang oder Revision genannt wird, spielt für mich keine Rolle. Wenn man es aber abschafft, respektive stoppt, dann ist das ein politisches Zeichen gegen die Digitalisierung. Und das wäre absolut fatal.
Ich möchte, dass sich jetzt die Spitäler und alle Leistungserbringer intern auf Vordermann bringen und digital bereit sind, damit sie dann quasi nur noch «den Stecker einstecken» müssen, wenn das neue EPDG kommt.  

Bei HIN stellen wir dem Gesundheitswesen sichere Services, die praktisch anwendbar sind, zur Verfügung. Wie wichtig sehen Sie Initiativen wie jene des E-Rezept Schweiz in Anbetracht der digitalen Transformation, aber auch fürs Schweizer Gesundheitswesen generell?

Ich finde die Initiative E-Rezept Schweiz toll und die Herausforderung wird sein, sowohl den Leistungserbringern als auch den Patientinnen den Mehrwert aufzuzeigen. Ich komme mit dem Smartphone in die Apotheke, habe mein digitales Rezept und nicht irgendwie einen Zettel, den ich verloren habe oder der durchnässt vom Regen ist.Wenn die Initiative erfolgreich wird, ist dies ein Zeichen, dass Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen funktioniert. Es gilt allerdings darauf zu achten, dass es im Gesamtsystem integrierbar ist. Die Gefahr bei zu vielen Einzelprojekten besteht, dass diese untereinander nicht koordiniert, interoperabel sind. Aber ich finde, man muss jetzt einfach vorwärts machen. Beim EPD wurde ein dreistelliger Millionenbetrag verfressen für nichts und wieder nichts. Das sind Prämiengelder und Steuergelder. Projekte wie die Initiative E-Rezept Schweiz kosten nicht so viel, können aber den Leistungserbringern vielleicht die Angst vor der Digitalisierung nehmen und aufzeigen: Da entsteht kein Mehraufwand, sondern ein Mehrwert und ist damit langfristig sogar günstiger.

Das Gesundheitswesen ist mit verschiedenen komplexen Themen konfrontiert. Wenn Sie sich etwas für das Schweizer Gesundheitswesen in Sachen Digitalisierung wünschen könnten, was wäre es, und wo sehen Sie unser Gesundheitswesen in zehn bis fünfzehn Jahren?

Ich wünsche mir, dass die Digitalisierung im Interesse des Patienten da ist und dass es dadurch zu einer besseren Behandlung und Versorgung kommt. Wir haben ausserdem einen Fachkräftemangel, und mit der Digitalisierung soll die Arbeit effizienter werden und Ressourcen sollen in der Versorgung anstatt der Administration oder Doppeluntersuchungen eingesetzt werden. Das hätte im besten Fall langfristig gar einen guten finanziellen Nebeneffekt.

Autor: Philipp Senn - Leiter Kommunikation

Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

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